Warum ganzheitliches BGM erst dann Wirkung erzielt, wenn arbeitsmedizinische, arbeitspsychologische und gesundheitsförderliche Perspektiven integriert werden.
In vielen Organisationen existieren arbeitsmedizinische Untersuchungen, arbeitspsychologische Beratungen und gesundheitsförderliche Programme parallel nebeneinander, jedoch weitgehend ohne strukturelle Verknüpfung. Aus wissenschaftlicher Sicht ist dies der zentrale Grund, warum BGM-Maßnahmen häufig eher punktuell Effekte erzielen und seltener nachhaltige Veränderungen bewirken. Prävention entfaltet ihre Wirkung erst, wenn Arbeitsbelastungen aus mehreren Disziplinen gemeinsam analysiert, mit den Verantwortlichen priorisiert und mithilfe zuständiger Personen koordiniert werden sowie Interventionen überwacht bleiben.
1. Arbeitsmedizin: Frühindikatoren physiologischer Belastung
Die arbeitsmedizinische Betreuung erlaubt die objektive Betrachtung und die darauf aufbauende fachliche Bewertung, inwieweit Arbeitsbelastungen sowie Beanspruchungsfolgen gesundheitsgefährdend werden können, etwa bei Bewegungsabläufen insbesondere bei körperlichen Berufen, die zusätzliche Belastung im Falle von Schichtarbeit, fehlgestaltete Ergonomie am Büroarbeitsplatz oder zu hohe Lärmexposition – nur um hier einige Beispiele zu anzuführen. Die arbeitsmedizinische Forschung zeigt, dass präventive arbeitsmedizinische Maßnahmen insbesondere dann wirksam sind, wenn sie in ein Organisationssystem eingebettet sind, das strukturelle Anpassungen ermöglicht.
Um solche Belastungen frühzeitig zu erkennen, stehen in der Arbeitsmedizin verschiedene diagnostische und beratende Verfahren zur Verfügung, die zugleich wesentliche Verpflichtungen aus dem Arbeitnehmer*innenschutzgesetz (ASchG) erfüllen. Dazu gehören unter anderem:
- Lärmexposition: orientierende oder messtechnische Lärmerhebungen sowie otologische Vorsorgeuntersuchungen, um Gesundheitsgefährdungen durch schädlichen Lärm frühzeitig zu beurteilen und geeignete Schutzmaßnahmen abzuleiten.
- Ergonomische Fehlbelastungen: Analyse von Hebe-, Trage- und Rotationsbewegungen, ergonomische Bewertung von Arbeitsplätzen und Arbeitsmitteln sowie Mitwirkung bei der Festlegung sicherer Arbeitsabläufe.
- Schicht- und Nachtarbeit: arbeitsmedizinische Beurteilung von Erholungsmustern, Belastungsprofilen und gesundheitlichen Risiken, einschließlich Empfehlungen für eine belastungsreduzierte Dienstplangestaltung.
- Gefährdungen durch Gefahrstoffe und physikalische Einwirkungen: Vorsorgeuntersuchungen nach G-Standards, Biomonitoring sowie Beratung zur Minimierung arbeitsbedingter Expositionen.
- Mitarbeit an der Evaluierung: arbeitsmedizinische Einschätzung der physiologischen Auswirkungen von Arbeitsbedingungen als Bestandteil der gesetzlich geforderten Gefährdungsbeurteilung.
Diese Verfahren erfüllen jedoch nicht nur formale Vorgaben. Sie wirken vor allem dann präventiv, wenn die Befunde systematisch in betriebliche Entscheidungen einfließen: ergonomische Anpassungen, technische Schutzmaßnahmen, Optimierung der Arbeitsorganisation oder belastungsreduzierende Dienstplanmodelle. Arbeitsmedizin wird damit zu einem frühzeitigen Indikatorensystem, das eine gesetzeskonforme und gesundheitsförderliche Gestaltung von Arbeit ermöglicht.
2. Arbeitspsychologie: Analyse organisationaler und psychosozialer Belastungsfaktoren
Die Rolle der Arbeitspsychologie in Betrieben ergänzt diese, von der Arbeitsmedizin insbesondere begutachteten physiologische Ebene, um zentrale Gestaltungsempfehlungen zur Reduktion von langfristiger, zu starker Beanspruchung auf weiteren Ebenen. Das sind klassischerweise Belastungsfaktoren die sich auch das psychosoziale Erleben der Arbeitnehmer*innen beziehen. Beispielsweise Rollenunklarheit, mangelnde Entscheidungsspielräume, zu häufige Unterbrechungen von Arbeitsabläufen, Konfliktdynamiken. Diese in der Arbeitswelt regelmäßig auftretenden Umstände gelten als empirisch gut untersucht und korrelieren eindeutig mit unerwünschten Outcomes wie erhöhte Fehlbeanspruchung oder Leistungsreduktion. Meta-Analysen zeigen, dass arbeitspsychologische Interventionen größere Effekte erzielen können, wenn sie strukturelle Ursachen adressieren, nicht nur individuelles Verhalten. Allerdings zeigt sich aber auch, dass die bestmöglichen Ergebnisse erzielt werden, wenn Interventionen auf strukturelle Ursachen und zugleich auf individuelle Gesundheitsförderung abzielen (Kombination).
3. Gesundheitsförderung: Selbstverantwortung und Gesundheitskompetenz im Fokus
Die Maßnahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung zielen vorwiegend auf die alltäglichen Verhaltens- und Entscheidungsmuster der Beschäftigten, ob zu den Aspekten Bewegungsverhalten, Ernährungsweise, Schlaf und Erholung, Stressregulation oder gesunde Bewältigungsstrategien. Maßnahmen zur Gesundheitsförderung sind dann besonders wirksam, wenn sie kontextspezifisch angewendet wird. Das bedeutet, dass es auf die konkrete Situation, auf das Umfeld und auf die Bedürfnisse der Zielgruppe zugeschnitten ist. Beispielsweise erfordert eine Intervention für Schichtarbeiter*innen andere Inhalte und Formale als eine für Büroangestellte. Es dreht sich demnach um sehr wichtige Details zur Einschätzung der Berufserfahrung, Alter, Gesundheitskompetenz, Motivation oder auch derzeitige Veränderungsprozesse.
BGF kann nun strukturelle Fehler nicht gänzlich kompensieren, aber sie unterstützt auf individueller Ebene, kann zu vorhandenen Belastungsfaktoren wichtige Sensibilisierung und Unterstützung leisten und verstärkt idealerweise die Wirkung struktureller Maßnahmen, wenn diese ausreichend präzise abgestimmt sind.
4. Warum entsteht Wirkung erst im Zusammenspiel?
Einzelmaßnahmen bleiben häufig begrenzt wirksam, weil diese jeweils nur einen Ausschnitt des Belastungsgeschehens erfassen. Erst durch die Integration entstehen steuerungsrelevante Zusammenhänge, die organisationsweit genutzt werden können.
Wie können diese Perspektiven nun exemplarisch zusammen integriert werden?
- Arbeitsmedizinische Evaluierungen zeigen wo und in welcher Intensität diverse Belastungen wiederkehrend entstehen.
- Arbeitspsychologische Beratung erklärt, warum diese wirken und an welchen Punkten gestaltet werden muss.
- Gesundheitsförderung sensibilisiert und regt an wie Verhalten und Gewohnheiten angepasst werden könnten.
Die Kombination dieser drei Perspektiven erlaubt ein mehrdimensionales Belastungsprofil, welches präzise genug ist, um priorisierte und evidenzgeleitete Interventionen abzuleiten.
5. Der Prozess systemischer Prävention
Die arbeitswissenschaftlich fundierte Präventionsarbeit orientiert sich in der Regel an vier Schritten:
- Analysieren: medizinische, psychosoziale und organisationale Belastungsfaktoren erfassen
- Bewerten: mögliche Risiken nach Relevanz, Häufigkeit und rechtlichen Vorgaben ordnen und entsprechend priorisieren
- Intervenieren: Maßnahmen ableiten, welche strukturelle und verhaltensbezogene Ebenen verbinden
- Evaluieren: erwartete Veränderungen regelmäßig überprüfen und gegebenenfalls Maßnahmen anpassen
Dieser Zyklus ist dann vollständig abbildbar, wenn alle drei Fachbereiche beteiligt sind und verfügbare Daten gemeinsam interpretiert werden. Dadurch entsteht ein nachvollziehbarer Lösungsweg, welcher dokumentiert, gesetzte Interventionen nachvollziehen kann und auch gemeinsam überprüft werden können.
6. Organisationaler Nutzen: weniger Varianz, mehr Steuerbarkeit
Meta-Analysen belegen, dass arbeitsplatzbezogene Gesundheits- und Präventionsprogramme Fehlzeiten reduzieren und sowohl Wohlbefinden als auch Arbeitsfähigkeit verbessern können. Eine gezielte Verzahnung von Maßnahmen (z. B. Arbeits- und Umweltgestaltung, Gesundheitsförderung, psychosoziale Interventionen) könnte — theoretisch und konzeptionell — die Wirkung verstärken. Definitive, empirisch abgesicherte Zahlen für Effekthöhen bei integrierten, multidisziplinären Systemen liegen derzeit nicht vor.
Was sich in der Praxis dennoch deutlich zeigt: Der Mehrwert entsteht weniger durch die Summe einzelner Interventionen, sondern durch die Art und Weise, wie strukturelle, psychologische und gesundheitsförderliche Perspektiven gemeinsam genutzt werden. Dadurch ergeben sich Mechanismen, die Organisationen unmittelbar handlungsfähiger machen:
- eine verringerte Fehlerrate in der Priorisierung
- konsistentere Entscheidungen auf Führungsebene
- reduzierte Abhängigkeit von individuellen Belastungsinterpretationen
- höhere Rechtssicherheit im Kontext des ArbeitnehmerInnenschutzes
Unser Fazit aus Anbieter-Perspektive (WorkPlaceHealth)
Was wir in unserer Arbeit immer deutlicher erkennen, ist, dass ein wirksames BGM nicht dadurch entsteht, dass drei Fachbereiche „gut zusammenarbeiten“. Es geht vielmehr um die erkannte Verantwortung sowie um die gezielte Steuerung dieser zusammenhängenden Akteure und Funktionen.
In der Praxis kann dies ohne erheblichen Mehraufwand funktionieren, indem die Beteiligten miteinander proaktiv vernetzt werden, durch das Abhalten von regelmäßigen und priorisierten Abstimmungsterminen, dank geteilter Datenbasis und durch die zentrale Koordination einer übergeordneten Ansprechperson.
Für uns bedeutet das: Arbeitsmedizin, Arbeitspsychologie und Gesundheitsförderung sind keine Module, welche man nebenbei organisiert, sondern drei unterschiedlich fokussierte „Analysewerkzeuge“ und „Veränderungshebel“, die erst gemeinsam einen Zielzustand erreichen, welcher ansonsten nicht erreichbar wäre.
Sobald diese drei Ebenen übereinander statt nebeneinandergelegt werden, wird zunehmend erkennbar, welche Potentiale als Betrieb zusätzlich genutzt werden können. Dann beginnt ein Unternehmen, die Gesundheit aller Beteiligten nicht nur verwalten, sondern zu steuern und noch positiver zu beeinflussen.
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