Von BGM-Erfahrungen zur ESG-Governance: Warum soziale Nachhaltigkeit ohne Gesundheit nicht funktioniert

Carina Schinnerer ist Gruppenleiterin für HSE – Health, Safety & Environment – bei der immOH!, einem Tochterunternehmen der Wiener Stadtwerke Gruppe. Dort verantwortet sie unter anderem den ESG-Bereich – von der Strategie bis zur konkreten Umsetzung. Parallel arbeitet Carina Schinnerer als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem Forschungsprojekt zur ESG-Berichterstattung für kleine und mittlere Unternehmen. Ihr Schwerpunkt dort liegt auf dem Thema ESG-Governance – also der Frage, wie man Nachhaltigkeit strukturell und langfristig in Organisationen verankern kann. Ihre Reise bei der immOH! startete aber im Bereich des BGM. In der Zeit hat sie gesehen, dass Nachhaltigkeit und Gesundheit zwei Themen sind, die sich nur schwer trennen lassen. 

 

Kim Kannler: Frau Schinnerer, Sie kennen beide Seiten – BGM und ESG. Heute möchte ich mit Ihnen darüber sprechen, wie sich diese Perspektiven verbinden lassen. Zunächst interessiert mich aber Ihre persönliche Motivation: Was hat Sie dazu bewegt, sich in Richtung ESG-Management zu entwickeln?

Carina Schinnerer: Ich habe in erster Linie mal „was mit Nachhaltigkeit“ studiert, und natürlich auch eine große intrinsische Motivation für dieses Thema. Es geht nicht nur darum, einzelne Maßnahmen umzusetzen, sondern darum, Systeme zu hinterfragen und zu verändern. Der Schritt ins ESG-Management war für mich sehr naheliegend – weil ich dort genau diese systemische Perspektive einnehmen kann. Nachhaltigkeit betrifft alle Bereiche eines Unternehmens, und genau das macht es für mich so spannend: Ich kann mitgestalten, verknüpfen, erklären und Menschen ins Boot holen. Aktuell liegt der Fokus auf ESG-Governance – also auf der Frage, wie man Nachhaltigkeit so aufstellen kann, dass sie nicht vom Zufall abhängt, sondern zur Struktur wird. Und zu dieser Nachhaltigkeit gehört eben auch die soziale Nachhaltigkeit, die den Umgang und die Gesundheit der Mitarbeiter*innen betrifft.

 

Kim Kannler: Wenn Sie heute auf Ihre Tätigkeiten im BGM-Bereich zurückblicken: Was hat Sie am meisten geprägt (bzw. was war Ihnen besonders wichtig) – auch in Verbindung mit Ihrer jetzigen Rolle?

Carina Schinnerer: Ich habe im BGM gelernt, wie wichtig es ist, Menschen mitzudenken – nicht als To Do, sondern als wichtiges Element für eine nachhaltige Entwicklung. Es waren oft die kleinen Gespräche zwischen Tür und Angel, die gezeigt haben, was gute Rahmenbedingungen und Wertschätzung ausmachen. Diese Erfahrungen haben mich sensibel gemacht für soziale Nachhaltigkeit, für psychische Gesundheit, für das Thema Kulturwandel. Im ESG Management profitiere ich oft davon: Denn auch hier geht es darum, gute Bedingungen zu schaffen – nicht nur fürs Klima, sondern auch für die Menschen im Unternehmen.

 

Kim Kannler: Was braucht es aus Ihrer Sicht, damit ESG-Themen im Arbeitsalltag von Unternehmen – gerade in kleineren Organisationen – greifbar und machbar werden?

Carina Schinnerer: Dafür braucht es aus meiner Sicht in erster Linie Anschlussfähigkeit. Also kein abstraktes Konzept, das irgendwo „oben“ stattfindet, sondern ein Thema, das mit dem zusammenhängt, was die Menschen im Unternehmen (und auch privat) ohnehin schon beschäftigt: Energieverbrauch, Gesundheit, gute Zusammenarbeit, Sicherheit am Arbeitsplatz oder soziale Verantwortung.
Wichtig ist, dass ESG nicht als zusätzliche Belastung wahrgenommen wird, sondern als Weiterentwicklung bestehender Prozesse. Dazu braucht es verständliche Informationen, praxistaugliche Tools und Personen im Unternehmen, die Verantwortung übernehmen und das Thema kontinuierlich mitdenken. Das kann auch im kleinen Rahmen beginnen.
Und: Man muss nicht alles auf einmal machen. Oft hilft es, mit einem Bereich zu starten – zum Beispiel mit Gesundheit – und darauf aufzubauen. Es gibt mittlerweile auch einige kostenfreie Anlaufstellen, die hier unterstützen – etwa der ESG SmartHub, der KMU praxisnah informiert. Wenn man ESG in den Arbeitsalltag holen will, geht es nicht um Perfektion, sondern um Lernbereitschaft und den Mut, erste Schritte zu machen.

Oft hilft es schon, nach einer Maßnahme kurz innezuhalten: Was hat gut funktioniert? Wer hat teilgenommen? Welche Rückmeldungen gab es? Daraus kann man erste Schwerpunkte ableiten oder auch sehen, welche Zielgruppen man bisher noch nicht erreicht hat.

Carina Schinnerer

Kim Kannler: Sie erwähnten, dass es hilft mit einem Bereich zu starten. Viele Unternehmen starten mit einzelnen Gesundheitsmaßnahmen, ohne gleich ein ganzes System dahinter. Welche Wege sehen Sie, wie daraus Schritt für Schritt mehr werden kann – ohne den Anspruch, gleich alles perfekt zu machen?

Carina Schinnerer: Viele Unternehmen starten mit einzelnen Gesundheitsmaßnahmen – und ich glaube, das ist oft einfach der naheliegende Zugang. Man probiert etwas aus, schaut, wie es ankommt, und sammelt erste Erfahrungen. Aus meiner Sicht kann daraus sehr gut mehr entstehen, wenn man sich erlaubt, schrittweise weiterzugehen – ohne den Druck, sofort ein umfassendes System dahinter haben zu müssen.
Oft hilft es schon, nach einer Maßnahme kurz innezuhalten: Was hat gut funktioniert? Wer hat teilgenommen? Welche Rückmeldungen gab es? Daraus kann man erste Schwerpunkte ableiten oder auch sehen, welche Zielgruppen man bisher noch nicht erreicht hat. Wenn sich daraus eine gewisse Regelmäßigkeit und ein gemeinsames Verständnis entwickeln, entsteht mit der Zeit Struktur – ohne dass man sie von Anfang an durchplanen muss.
Ich erlebe es auch als sehr hilfreich, wenn ein externer Partner mit dabei ist, der das Ganze mit einem gewissen Blick von außen begleitet. So fällt es leichter, dranzubleiben und nicht bei Einzelaktionen stehenzubleiben.

 

Kim Kannler: Welche Erwartungen gibt es heute an ESG bzw. die ESG-Berichterstattung?

Carina Schinnerer: Die Frage wird gerade jede*r etwas anders beantworten, aber ich für meinen Teil, habe trotz Omnibus hohe Erwartungen. ESG-Berichterstattung soll zeigen, wo ein Unternehmen steht, wohin es will, und was es dafür konkret tut. Es geht nicht (nur) um Zahlen, sondern auch um Werte und Transparenz. Man erwartet, dass Unternehmen nicht nur ihre ökologischen Fußabdrücke kennen, sondern auch soziale Verantwortung übernehmen – sei es in der Lieferkette, bei der Gleichstellung oder beim Thema Gesundheit. ESG wird immer mehr zum Maßstab für Zukunftsfähigkeit – und das macht es aus meiner Sicht relevant.

 

Kim Kannler: Welche Rolle kann das Thema Gesundheit dabei spielen?

Carina Schinnerer: Gesundheit ist ein wichtiger Indikator für Resilienz, kein „nice to have“ – individuell und organisatorisch. Wer langfristig wirtschaftlich erfolgreich sein will, braucht gesunde, engagierte Mitarbeiter*innen. Und das lässt sich eben nicht mit einem Obstkorb oder einem Yogakurs erreichen, sondern mit strukturellen Maßnahmen: gute Führung, faire Arbeitsbedingungen, psychische Sicherheit, die Möglichkeit auf Weiterbildung. In der ESG-Logik bedeutet das: Gesundheit gehört ganz klar in die „S“-Säule – und sollte auch dort entsprechend sichtbar gemacht werden.

 

Kim Kannler: Was sind für Sie gute Beispiele, wie man Gesundheitsmaßnahmen glaubwürdig nach innen und außen kommunizieren kann?

Carina Schinnerer: Ich finde, es geht weniger darum, was man alles anbietet, sondern wie man es tut. Glaubwürdigkeit erreicht man nicht durch möglichst teure Programme, sondern durch den Willen, Gesundheit wirklich im Arbeitsalltag mitzudenken, in Entscheidungen und in der Kommunikation.
Auch mit kleinen Mitteln lässt sich viel bewegen. Eine Melanom-Untersuchung vor Ort, ein kurzer Workshop zur psychischen Gesundheit oder ein gut sichtbares Info-Angebot zur arbeitspsychologischen Betreuung zeigen, dass man sich kümmert. Wichtig ist auch, dass solche Angebote nicht nur für die Führungsebene oder Büroangestellte gedacht sind, sondern möglichst alle erreichen – auch im Schichtbetrieb oder im Außendienst. Das zeigt Wertschätzung.
Aus meiner Sicht ist es außerdem wichtig, dass Gesundheitsmaßnahmen im Unternehmen nicht „nebenbei“ passieren, sondern bewusst angekündigt, aktiv unterstützt und im Nachhinein reflektiert werden. Das muss keine aufwändige Kampagne sein, aber es muss spürbar sein, dass es ernst gemeint ist.

 

Kim Kannler: Wie wird BGM zu einem ESG-Faktor?

Carina Schinnerer: Durch die Verortung im richtigen Bereich, als Teil der sozialen Nachhaltigkeit. Es reicht nicht, BGM als „nice to have“ zu sehen. Es geht um Beschäftigungsfähigkeit, um Arbeitsfähigkeit, um psychische Gesundheit – und das sind alles Themen, die in der ESG-Welt längst angekommen sind. Wenn Unternehmen beginnen, diese Faktoren in ihre Wesentlichkeitsanalysen aufzunehmen, wenn sie sie messen, bewerten und darüber berichten, wird BGM zu einem echten ESG-Thema mit Steuerungsrelevanz. Und hier muss niemand das Rad neu erfinden, es gibt großartige Angebote, die viel bewirken können, und nicht unbedingt teuer sind. Ein Gesundheitstag, ein Workshop zum Thema gesunde Ernährung, die Möglichkeit zur Melanom Untersuchung – das alles trägt zur sozialen Nachhaltigkeit bei.

 

Kim Kannler: Was braucht es in der Zusammenarbeit zwischen HR, Nachhaltigkeit & Kommunikation?

Carina Schinnerer: Es braucht ein gemeinsames Zielbild.  HR kennt die Menschen, Nachhaltigkeit kennt die regulatorischen Anforderungen, und Kommunikation weiß, wie man Botschaften wirksam nach außen bringt. Wenn diese drei Bereiche zusammenarbeiten, entstehen Synergien – und die sind gerade im ESG-Bereich super wichtig. Was es braucht, ist ein gemeinsames Zielbild, regelmäßiger Austausch und das Verständnis, dass Nachhaltigkeit nicht nur ein Bericht, sondern ein Kulturthema ist.

 

Kim Kannler: Wo liegen ungenutzte Potenziale, wenn man ESG und BGM zusammendenkt?

Carina Schinnerer: Ich glaube, da gibt es noch so einiges, das auch für mich sicher noch neu ist. Aber ein Thema das mir einfällt ist die Resilienz von Organisationen. Die lässt sich nicht nur mit (Klima)Risikomanagement stärken, sondern auch mit gesundheitsfördernden Strukturen. Im Employer Branding ist das sicher auch ein Thema – wenn ein Unternehmen glaubwürdig zeigt, dass Gesundheit und soziale Nachhaltigkeit wirklich gelebt werden, dann spricht das auch eine neue Generation von Mitabeiter*innen an. Das Thema Führung spielt, glaube ich, auch noch eine große Rolle. Wer nachhaltig führen will, muss auch gesund führen. Das alles sind Potenziale, die die soziale Nachhaltigkeit – und damit auch das BGM – step by step in eine strategischere Rolle bringen.

 

Kim Kannler: Was bräuchte es, damit Unternehmen Gesundheit nicht nur operativ, sondern auch strategisch als ESG-Thema sehen?

Carina Schinnerer: Diese Frage ist schwer zu beantworten, ich glaube aber, das Erste was es braucht, ist das Commitment der Führungsetage. Wenn die Geschäftsführung Gesundheit als wichtigen Teil der Nachhaltigkeitsstrategie sieht, dann ist das schon die halbe Miete. Das öffnet die Türen zu dem, was den Unterschied machen kann. Nämlich die Einbindung in strategische Steuerungselemente wie Risikobewertungen, Zielsysteme und in die Wesentlichkeitsanalyse. Was man dann noch braucht, sind klare Kennzahlen und Indikatoren um seinen Erfolg, oder besser gesagt, seine Entwicklung messen zu können.

 

Herzlichen Dank, Carina Schinnerer, für Ihre spannenden Einblicke und dafür, dass Sie gezeigt haben, wie eng soziale Nachhaltigkeit und Gesundheit zusammengehören – und wie wichtig es ist, auch klein anzufangen, Schritt für Schritt aufzubauen und das Thema wirklich ernst zu nehmen, um es fest in Unternehmen zu verankern.
Neben Ihrer Rolle als Gruppenleiterin HSE bei immOH! bringen Sie Ihr Wissen auch im ESG SmartHub ein, wo Sie kleine und mittlere Unternehmen organisatorisch und beratend unterstützen – ein Blick auf das LinkedIn-Profil lohnt sich, um mehr zu erfahren.

Unsere Unterstützung für Ihren Einstieg in ESG und BGM

Auch wir bei WorkPlaceHealth begleiten Unternehmen dabei, Gesundheit und soziale Nachhaltigkeit systematisch zu stärken – Schritt für Schritt und praxisnah. Ob einzelne Maßnahmen wie Gesundheitstage, Workshops zu psychischer Gesundheit oder die Sicherstellung von gesunden Arbeitsbedingungen: Gemeinsam entwickeln wir passgenaue Lösungen, die sich gut in den Arbeitsalltag integrieren lassen.

Interesse geweckt? Melden Sie sich gerne bei uns – wir finden den passenden Weg für Ihr Unternehmen.

 

Interview & Redaktion

Dr. Kim Kannler

Projektmanagerin

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